«Nie wieder!»? – Schon wieder!

«Nie wieder!»? – Schon wieder!

75 Jahre sind vergangen, seit sowjetische Soldaten die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz befreiten, Ort eines unvorstellbaren Verbrechens gegen die Menschlichkeit, zu verantworten vom Nazi-Terrorregime. Menschen wurden ermordet wegen ihres Glaubens, vor allem Juden, ihres ethnischen Hintergrunds, Sinti und Roma, wegen ihrer politischen Position, ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer so genannten Geisteskrankheiten.

Die Nazis bestimmten, in ihrer monströsen Anmassung, welches Leben lebenswert war und welches nicht.

Die heute 95 Jahre alte Anita Lasker-Wallfisch wurde als 17-jährige Jugendliche nach Auschwitz deportiert. Ihre Eltern wurden ermordet. Auch ihr wurde der Kopf kahlgeschoren. Doch sie überlebte: weil sie im «Frauenorchester», das die Nazis groteskerweise eingesetzt hatten, Cello spielen konnte!

Frau Lasker-Wallfisch hatte den Mut, nach Deutschland zurückzukehren. Seit mehr als 30 Jahren hält sie Vorträge an Schulen, Motto: «Nie wieder!» Das ist ihre Mission. Als eine der letzten Zeitzeugen das Gedenken aufrecht zu erhalten.

Ich glaube, ich verstehe das. Diese unvorstellbaren Verbrechen der Nazis dürfen nicht vergessen werden.

Aber ich habe Fragen zum «Nie wieder!».

Man dürfe nicht vergessen, hiess es zum Gedenktag 75 Jahre danach. Man müsse sich erinnern. Ja! Aber: wie GENAU soll das gehen? Wer GENAU darf nicht VERGESSEN – könnte es aber offenbar? «Wir»? Wer soll das sein? «Sie»?

Ich? 80-Jährige? Teenager? Juden? Muslime? Atheisten? Sinti, Roma? Und was GENAU könnte ich denn vergessen? Oder Sie? Oder wir? «VERGESSEN»?! Das Morden? Ich bin kein Mörder. Ermordet werden? Sind Sie ermordet worden? Es gehe, natürlich, um diese sechs Millionen Morde. Die man nicht vergessen dürfe. Pardon, VERGESSEN? Wie sollten diese sechs Millionen vergessen werden können? Wer GENAU muss sich ERINNERN, muss aber offenbar dazu gemahnt werden? Und warum?

Es sei unwirklich gewesen. Sagen Überlebende. «Auschwitz» sei unwirklich gewesen.

Wieder hiess es dieser Tage: «Nie wieder!». 75 Jahre nach der Befreiung der Auschwitz-Überlebenden. Wie auch vor fünf Jahren, zum 70-Jahre-Gedenken, als ich «Auschwitz» gesehen habe. Was aber sagt die Statistik? Sie geht in eine einzige Richtung. Antisemitische, aber auch andere rassistisch motivierte Vorfälle nehmen zu. Und schon vor Jahren hatte es die Morde in Biafra gegeben und in Srebeniza und in Ruanda. Und die ersten Juden, die nach der Shoa umgebracht wurden, waren Überlebende in Polen. 1947!

Es stimmt etwas nicht mit dem «Nie wieder!».

Ich glaube, wir müssen das Gedenken trennen von der Prävention. Für das «Nie wieder!» müssen wir die Mechanismen verstehen, die zu diesen Verbrechen führen.

Die Nazi-Verbrechen fingen nicht mit der Deportation der 17-jährigen Anita Lasker-Wallfisch an. Es gab eine Vorgeschichte. Ich greife ein Detail heraus. 1931 zeigte die Nazi-Zeitung «Der Stürmer» folgendes Bild: einen im Inneren verfaulten Apfel, aus dem ein Messer mit Hakenkreuz-Symbol einen Wurm herausgrub, Unterschrift: «Wo etwas faul ist, ist der Jude die Ursache».

Zur eidgenössischen Wahl 2019 lancierte die grösste Partei der Schweiz, die SVP, folgendes Wahlplakat: ein roter, knackiger Apfel, mit dem Schweizerkreuz-Symbol, wird von Maden zerfressen, Unterschrift: «Sollen Linke und Nette die Schweiz zerstören?» Zuvor hatten bei Abstimmungen SVP-Plakate Ausländer mit gefrässigen Raben verglichen, die auf der Schweiz herumhacken, oder mit schwarzen Schafen.

Das ist der Mechanismus, das ist die Manipulation: politische Gegner, Andersdenkende werden entmenschlicht, indem sie mit ekelhaften, unsympathischen Tieren symbolisiert werden; sie werden ausgegrenzt; zu Sündenböcken erklärt. Damit wird legitimiert, dass man sie beseitigen oder vernichten darf – und muss!

Schon wieder! Wenige Jahrzehnte nach «Auschwitz». Trotz allem «Nie wieder!». Diese Mechanismen müssen wir erkennen, gegen sie müssen wir uns wehren.

Der Holocaust, die Shoa war ein einmaliges Verbrechen, doch die Mechanismen, die es vorbereiteten, werden auch heute benutzt.

Meine Mutter war eine geborene Schindowski. Sie mochte diesen Namen nicht: «zu polnisch». Aber wenigstens nicht so verdächtig wie «Weinberg». So hiess ihre Mutter vor der Heirat. «Das dürft ihr nicht herumerzählen», schärfte meine Grossmutter meiner Mutter ein. Das wäre zur Nazi-Zeit lebensgefährlich gewesen. Diesen Mechanismus der Ausgrenzung, diesen ganz normalen Irrsinn des damaligen Alltags, hat meine Mutter nie vergessen.  PS: Meine Reportage über meinen Auschwitz-Besuch ist im Magazin «tachles» erschienen, Ausgabe 23. Januar 2015, unter dem Titel «Gelingt die Annäherung?».

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